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Auf der Suche nach den neuen Möglichkeiten der Architektur
Patrik Schumacher im Gespräch mit Norbert Fiebig

Publshed in: betonprisma, Beitraege zur Architektur, 55.Jahrgang, Ausgabe 109/2019

 

Auf Ihrer Seite patrikschumacher.com weisen Sie unter „writings - theorizing architecture“ mehr als 160 von Ihnen von 1989 bis heute verfasste Bücher und Aufsätze aus, allein 16 in den beiden letzten Jahren.
Was treibt Sie an, so viel zu publizieren?
Wie finden Sie die Zeit, wie nehmen Sie sich die Zeit, in Ruhe schreiben zu können?

P.S.:
Unsere Entwurfsarbeiten und Gebäude werden ja auch viel publiziert, aber zu oft missverstanden. Für mich ist es wichtig, die Motivation und Rationalität unserer Arbeiten zu erläutern. Dass ist nicht immer wortlos offensichtlich. Dazu bedarf es dann oft auch weiter ausholender Erklärungen und Argumente, die unsere Architekturkonzepte und Entwurfsmethoden in einen geschichtlich-gesellschaftlichen Zusammenhang bringen. Ich möchte darlegen wie unsere Architekturauffassung mit den ökonomischen, gesellschaftlichen und urbanen Entwicklungsdynamiken harmonieren. Die Zeit finde ich dazu am Wochenende, und im Flugzeug. Vorlesungen sind ein wichtiges Zwischenglied zwischen professioneller Arbeit und der Reflektion in Artikeln und Büchern. Das waren in den letzten 2 Jahren mehr als 100 Vorlesungen.

 

Der älteste auf Ihrer Seite ausgewiesene Beitrag, ein unveröffentlichtes Manuskript von 1989, trägt den Titel „Education for a Democratic Society“. Sie befassen sich hier mit allgemeinen philosophischen und politischen Überlegungen zur Frage der gesellschaftlichen Rolle und Konstitution von Schulen als Bildungs- und Sozialisationseinrichtungen. Die Schule ist (zusammen mit den Massenmedien), so stellen Sie heraus, „ein sehr wichtiger Faktor bei der Universalisierung einer gemeinsamen Diskurskultur (Bernsteins "elaborierter Code") und sollte eine ihrer exemplarischen Arenen sein. Deshalb muss der Unterricht antiautoritär sein. Autoritärer Unterricht in Naturwissenschaften und Rationalität im Allgemeinen würde bedeuten, dem Ziel mit dem Mittel zu widersprechen. Der Begriff des Wissens löst sich auf, wenn er als ein bestimmtes Material konzipiert ist, das der Schüler auf Befehl reproduzieren muss. Nachhaltiges Wissen in der westlichen Kultur ist von Natur aus diskursiv, dialogisch und basiert auf dem Austausch von Argumenten.“ Sie fordern hier u. a., dass Schule nicht mehr mit einer Auswahlfunktion belastet, dass auf Noten, Prüfungen und Zertifikate verzichtet werden sollte, die Selbstverwaltung durch Lehrer und Schüler.

 

Was treibt einen Architekten dazu, über Schule, Bildung und Wissensvermittlung nachzudenken – und was hat das dann vielleicht doch mit Architektur zu tun?

P.S.:
Als ich „Education for a Democratic Society“ schrieb war ich ja selber noch Schüler, bzw. Student. Aber zu dem was ich damals argumentiert habe, auf der Basis von Habermas, stehen ich auch heute noch. Diskurs und Macht bzw. Selektion schliessen sich aus. Ich habe diese Philosophie auch als Lehrer gelebt, seit meht als 25 Jahren. Noten sind vielleicht in Grundschulen sinnvoll, das kann ich nicht beurteilen. Aber in Hochschulen machen sie keinen Sinn. Bei mir, in meiner Schule, dem AA Design Research Lab, gibt es immer nur „pass“ oder „fail“, und immer für die Ganze Gruppe, ausnahmsweise mal eine „distinction“. Also zu einem gewissen Grad doch Macht und Selektion, als verpflichtende Vorgabe der Institution und der staatlich oktroierten Lizensierung. Als Arbeitgeber schaue ich aber nie auf die Noten, auch nicht auf Zeugnisse. Zaha und Rem hatten ja auch jahrelang keinen Abschluss. Ich hatte selber auch schon mehrere Jahre bei Zaha gearbeitet bevor ich meinen offiziellen Hochschulabschluss hatte. Zertifikate und Noten sind bedeutungslos. Ich schaue auf die Arbeiten und diskutiere mit den Kandidaten.
Was hat das alles mit Architektur zu tun? „Education for a Democratic Society“ war ein Essay zu einer parallelen Entwurfsarbeit. Inzwischen haben wir auch Schul-und Uni-gebäude entworfen, in London, Oxford, Wien, und Hong Kong, als Orte für einen offenen Diskurs.

 

Ihr aktuellstes und sicherlich wichtigstes Werk ist „The Autopoiesis of Architecture, Vol.1: A New Framework for Architecture“ und Volume 2, „A New Agenda for Architecture“, veröffentlicht 2012.
Warum brauchen wir eine „neue“ Agenda für die Architektur?

P.S.:
Ich arbeite gerade am Band 3, „A New Practice for Architecture“. Die neue Agenda ist hier Architektur als Kommunikation ernst zu nehmen, und zwar unter den neuen Voraussetzungen der sozialen Komlexität, Vielfältigkeit, Dynamik und Verdichtung in den Zentren unserer postfordistischen Netzwerkgesellschaft. Die Kernaussage und Leistung von Band 2 ist die Neuauflage der Architektursemiotik unter funktionalen Gesichtspunkten wie Navigation und sozialer Situationscharakterisierung. Im Band 3 zeige ich dann wie diese architektonischen Kommunikationsleistungen mittels Agenten-basierter Simulationen der sozialen Nutzungs- und Kommunikationsprozesse vergleichend getested, gemessen und optimiert werden können. Ein entsprechendes Forschungsprojekt läuft seid drei Jahren.

 

Welche Rolle spielt hier der von Ihnen entwickelte Begriff des Parametrismus? Und was meint dieser Begriff genauer?

P.S.:
Parametrismus ist hier, wie bei allen meinen Arbeiten, vorausgesetzt als der neue epochae Stil des einundzwanzigsten Jahrhunderts, als die Antwort der Architecktur auf die neuen Möglichkeiten und Herausforderingen unserer komputerbasierten Zivilisation. Obwohl die Grundeinsichten meiner Architektursemiotik auch unabhängig von den neuen formalen Ausdrucksmöglichkeiten des Parametrismus gelten, würde ein Verzicht auf diese Ausdrucksmöglichkeiten eine illegitime funktionale Einschränkung bedeuten. Die Überlegenheit Parametrismus ist schon aus rein technischen Gründen evident. Nur der Parametrismus erlaubt es Architekten die neuen ingenieursmässigen Optimierungsverfahren voll zum tragen kommen zu lassen. Die kongeniale, architektonische Aufnahme dieser technisch optimierten Morphologien, bei gleichzeitigen organisatorischen Freiheitsgraden, haben in den lezten 10 Jahren zu der neusten Spielart des Parametrimus geführt, die ich Tektonismus (tectonism) nenne. Der Tektonismus ist also der gegenwärtig aktuelle Substil des Parametrismus, so wie zum Beispiel Brutalismus ein Substil des Modernismus war. Foldism, Blobism und Swarmism waren vorgängige Spielarten des Parametrismus. Der Tektonismus hat gegenüber anderen Architekturstilen, auch im Vergleich mit den vormaligen Spielarten des Parametrismus,
eine grössere Vielgestaltigkeit, Kohärenz und Expressivität, die der Architektursemiotik sehr zugute kommt.

 

Sie haben diesen Begriff erstmals auf der Architekturbiennale in Venedig 2008 eingeführt: „Parametricism as Style –  Parametricist Manifesto“. 2015/2016 schreiben Sie dann über den „Parametricism 2.0“. Warum 2.0?

P.S.:
Der Parametrismus als Architekturbewegung hat in den lezten 20 Jahren enorme Fortschritte gemacht, vor allem in Bezug auf technische Kriterien. Darauf hatte sich die Bewegung konzentriert. Statische Optimierung, Optimierung in Hinsicht auf Klimatische Adaption von Architekturmorphologien, und die Optimiering mit Blick auf neue Konstrktionsmethoden standen im Vordergrund. Die sozialen, organisatorisch-funktionalen Vorteile und Fortschritte sind ebenfalls da, aber schwerer zu vermitteln und zu beweisen. Da gibt es viel Missverständnisse und Skepsis. Das liegt auch daran, dass die meisten Protagonisten des Parametrismus, inklusive Tektonismus, eher technisch orientiert arbeiten und sich nicht direkt, explizit mit dem sozialen Funktionieren von Gebäuden auseinandersetzen. Ich habe deshalb eine Reorientierung der Bewegung gefordert, weg von einer ausschliesslich technischen Orientiering, hin zu einer sozialen und gesellschaftlichen Orientierung, allerdings ebenfalls wissenschaftlich fundiert und ausgerüstet mit algorithmischen Entwurfs- und Optimierungsverfahren. Mein Forschungsprojekt „Agent-based Parametric Semiology“ ist ein praktischer Beitrag dazu. Die notwendige theoretische Vorarbeit, habe ich mit „The Autopoiesis of Architecture“, sowie mit „Parametricism 2.0“ geleistet. Ich bin davon überzeugt, dass nur diese notwendige und sinnvolle strategische Reorientierung dem Parametrismus zum globalen Durchbruch verhelfen kann.

 

Die Idee des Parametrismus als neuer Stil wurde in der Architekturdiskussion auch kritisch betrachtet.
Fehlt es Ihnen hier an – um auf unsere Eingangsfrage zurückzukommen – Diskursivem und Dialogischem, am Austausch von Argumenten?
Sind wir neuen Ideen gegenüber nicht offen genug?
Welche Blockaden müssen wir überwinden, um uns dem Neuen gegenüber eher öffnen zu können?
Müssen wir antiautoritärer denken, um zu wirklich zukunftsweisenden Lösungen zu kommen?

P.S.:
Das Problem liegt zum einen in der oben bezeichneten technischen Orientierung des Parametrismus. Wir brauchen eine neue Garde von Protagonisten, die die bisherigen technischen Errungenschaften annehmen und voraussetzen, aber jetzt ihre Entwurfsarbeit, weitere Forschungsarbeit und Ambitionen vor allem auf gesellschaftliche Problemlagen und Anforderungen hin zuschneiden. Das bedeutet auch, dass unsere Disziplin nicht nur mehr intuitive „Künstler“ oder „Ingenieure“ anziehen sollte, sondern auch Talente, die sich vielleicht zur Zeit eher in den Sozialwissenschaften verorten. Architektur kann eine intellektuell sehr spannende, anspruchsvolle Diszipin sein, mit eingekingt in Reformprozesse, mit Blick auf den ökonomischen und gesellschftlichen Fortschritt
Ich möchte nicht arrogant klingen, aber es fehlt unserer Disziplin weitgehend an einer den Aufgaben entsprechenden Diskursfähigkeit. Architekturtheorie muss auf Gesellschaftstheorie aufbauen. Das intellektuelle Niveau des Diskurses in der Architektur muss steigen, sonst bleiben Werke wie „The Autopoiesis of Architecture“ ohne Resonanz und ohne kritische Anknüpfung, und die Bewegung des Parametrismus bleibt missverstanden und marginal.

 

Sie haben bis 2016 gemeinsam mit Zaha Hadid und Ihrem Team, heute mit Ihrem Team, unter Berücksichtigung parametristischer Maximen ganz großartige Gebäude geplant und realisiert. Denken wir an das Kunstmuseum MAXXI in Rom von 2010, an das Library and Learning Center (LC) auf dem Campus der Wirtschaftsuniversität Wien von 2014, an die Dongdaemun Design Plaza in Seoul von 2013.
Wie sind die Ideen zu diesen Gebäuden / Architekturen entstanden?
Können Sie einen Ideenfindungsprozess für eines dieser Gebäude beispielhaft etwas detaillierter beschreiben?

P.S.:
Das Design von MAXXI nahm seinen Ausgangspunkt von der Geometrie des unmittelbaren urbanen Kontexts. Am Standort treffen sich zwei urbane Rasterrichtungen. Die beiden Richtungen wurden in das Grundstück hineingezogen. Die resultierende Winkeldivergenz von 51 Grad wurde mittels Kurven vermittelt. Das zweite, entscheidende Gestaltungskonzept war die Einführung eines starken, rigorosen Formalismus: der Formalismus der Streifenbildung mit parallelen Linien, die sich biegen,
verzweigen, bündeln oder auch manchmal kreuzen. Diese Linien wurden später als Wände, Balken und Rippen sowie als Treppen und Lichtleisten interpretiert.
Der Formalismus erlangte besondere funktionale Bedeutung, indem er die wesentliche funktionale Substanz des Museums aufnahm - die endlose Wand, die überall verstanden wurde als potenzielle Ausstellungsfläche - als grundlegende raumbildende Substanz des Projekts. Die Gestaltung erfolgt also über die Durchziehung des Geländes mit Ausstellungswänden. Die Wände verlaufen meist parallel. Die Richtungswechsel werden als Chancen genutzt den Abstand zwischen den Wänden zu verändern, wobei die Parallelität jederzeit erhalten bleibt. Die unterschiedlichen Richtungen vermitteln nach aussen eine Einbettung, und im inneren liefern sie auch die Möglichkeit Wände zu überschneiden und damit Akzente im Innern zu setzten. An den überschneidungspunkten haben wir dann jeweils Vertikaldurchbrueche plaziert. Das ist regelbasiertes Entwerfen. Das Spiel paralleler Wände, ergänzt durch verzweigte und sich kreuzende Wandbahnen, erzeugt sowohl Innen- als auch Außenräume.
Das Spiel der Wände funktioniert auf drei Hauptebenen. Dies impliziert, dass einige der Wände statisch als weitgespannte Träger oder als weitreichende Ausleger fungieren. Ein Satz Wände nimmt eine abfallende Bahn, die eine terrassierte Galerie im Inneren erzeugt. Die Wände erlauben breite Öffnungen, so dass lange, tiefe Staffelungen entstehen. Zwischen den Wänden nehmen Anordnungen von Rippen am gesamten laminaren Linienfluss teil und akzentuieren so die Direktionalität der Galerieräume. Diese Rippen strukturieren die Glasdächer, die das natürliche Licht in alle Galerieräume filtern. Ein Kontinuum korrelierter Architektur Elemente wird hergestellt: Wände, Balken und Rippen. Alles verbindet sich mit dem Formalismus linearer, strömender Elemente. Dies betrifft auch die Rampen und Treppenhäuser und damit letztendlich den Kreislauf des Publikums. Alles fließt, es gibt hier keine geschlossenen Räume oder Zellen, es sei denn die Kuratoren entablieren sie mittles eingestellten oder abgehängten temporären Wänden. Die entscheidenden Themen sind hier zum einen die urbane Anverwandlung und Einbettung, und zum anderen die Dialektik von Kontinuität und Differenzierung in kontinuierlich differenzierte Felder. Der Parametrismus ersetzt den modernen Raumbegriff mit dem parametrischen Feldbegriff, in Analogie zu Magnetfeldern. Hier gibt es keine Leere, sondern eine Fülle, die mittels eines graduell strukturierten Mediums zoniert und orientiert wird. Das erlaubt eine grössere Ausdifferenziering von Zonen und Situationen, sowie graduelle Übergänge und Zwischenzonen, immer mit simultaner Bewegungsfreiheit und orientierender visueller Antizipation. Die Ambition war es mitzuhelfen, das soziale Ereignis der Kunstaustellung in einem neuen räumlichen Rahmen auf ein neues, zeitgemässes sozial-funktionales Niveau zu heben.

 

Welche Rolle spielt – neben dem Rechner, diversen Computerprogrammen und Algorithmen, der Mensch, der Architekt, das Team, der Mensch Patrik Schumacher und seine Ideen?

P.S.:
Die forschungsleitenden Ideen, die dann auch zu entwurfsanleitenden Ideen werden sind natürlich entscheidend. In einem kritischen, theoretisch angeleiteten Forschungsumfeld müssen allerdings nicht alle Mitarbeiter in gleicher Weise theoretisch argumentieren. Hier kann man auch intuitive vorgehen. Was die Proliferation von formalem Material anbelangt, mit oder ohne Algorithmen, so bleibt da die Intuition auch heute noch fast unersetztbar. Allerdings müssen wir unsere Intuitionen auch jeweils kritisch hinterfragen. Wenn die Intuitionen die kritische Anfrage bestehen, dann lassen sie sich alsbald auch algorithmisch operationalisieren. Aber diese sukzessive algorithmische Operationalisierung bleibt bisher, und auch in vorhersehbarer Zukunft, parziell, und unbedingt eingebunden in ein reflektiertes Ouevre, angeleitet von einer theoretisch fundierten Idee und Strategie. Der Mensch Patrik Schumacher ist hier eine noch unersetzbare, im Sinne von Heinz von Foerster, nicht-triviale historische Maschine.

 

Das MMM Corones ist im Vergleich zu vielen anderen Entwürfen Ihres Büros ein eher kleines, man kann fast sagen „bescheidenes“ Gebäude.
Wie hat sich hier der Entwurfsprozess ob des geringeren Volumens im Vergleich zu den o. g. Gebäuden unterschieden?

P.S.:
Das Messmer Museum hat uns natürlich Spass gemacht. Auf so eimem „Grundstück“ zu arbeiten ist ein seltenes Privileg. Wir haben uns entsprechend intensiv den Kopf zerbrochen und in der Umsetzung engagiert. Der Entwurfsprozess war im Prinzip nicht anders als sonst auch: Ein Auswahlprozess inmitten einer reichen Proliferation von Ansätzen, Ideen und Varianten.

 

Hat sich der Prozess der Ideenfindung, des Entwerfens seit dem Tod von Zaha Hadid geändert?

P.S.:
Nein, bisher noch nicht. Auch strukturell sind wir noch unverändert. Ich habe mehr als 25 Jahre mit Zaha zusamengearbeitet und wir haben in diesem Zeitraum unsere Methoden, unsere Werte, sowie unser Team formiert. Der Entwicklungsprozess geht natürlich weiter, so dass in einem zukünftigen Rückblick in 10 Jahren, hoffentlich, einiges neu und anders, und besser läuft, mit neuen Ideen, umgesetzt auf höherem wissenschaftlichen und professionellem Niveau; so wie 2019 sich gegenüber 2009 darstellt.

 

 

Waren Zaha Hadid und Sie ein „kongeniales“ Team?

P.S.:
Aus meiner Sicht unbedingt. Zaha hat das auch so empfunden. Es waren aber noch ein paar mehr kongeniale Mitstreiter nötig um dass zu erreichen was wir erreicht haben. Ich bin, wie Zaha, ein Mensch der Ideen, weniger ein Businessman oder Projektabwickler, noch ein bautechnischer Virtuos.

 

Worin lag die Genialität von Zaha Hadid?

P.S.:
Zaha hat eine beispiellose Erweiterung des Entwurfsrepertoires der Disziplin geliefert, die allen Architekten und Designern neue Freiheitsgrade eröffnete. Sie hat das Möglichkeitsuniversum der Architektur ausgedehnt, den Suchraum der Designer, in dem Lösungen gesucht und gefunden werden können, beispiellose Lösungen. Aus der Perspektive eines erweiterten Lösungsraums sehen die Einschränkungen der ehemaligen, alten Suchräume wie willkürliche Dogmen aus, die viel Lösungspotenzial ausklammerten.
Was waren die wichtigsten Expansionsschritte von Zaha? Natürlich gibt es den Verzicht auf den rechten Winkel im Austausch gegen Hunderte neuer Winkel, die genutzt werden könnten. Dies war jedoch eher ein allgemeines (als ein einzigartiges) Merkmal des damaligen „Dekonstruktivismus“. Deshalb möchte ich mich lieber auf drei völlig originelle „Entdeckungen“ konzentrieren, die Zaha unserer Disziplin geschenkt hat. Die neuen Entwurfsschritte schienen zunächst völlig surreal oder absurd. Ich denke, deshalb war hier auch zuvor noch niemand je unterwegs.
Bei ihrer ersten radikalen Entdeckung von neuem entwerferischem Potential ging es darum, die dynamische Kurvatur des schnellen kalligraphischen Skizzierens wörtlich in eine Architekturzeichnung zu übersetzen, anstatt die Krümmung einer schnellen Skizze als grobe, zufällige Andeutung eines intendierten, stereotypen geometrischen Ideals, etwa eins Kreises oder Quadrats, zu behandeln. Die Linien von Handskizzen waren bis dato immer zu geraden Linien und Bögen rationalisiert worden. Die Kurven von Zaha weisen dagegen eine sich ständig ändernde Krümmung auf und bieten somit mehr Vielseitigkeit und Anpassungsfähigkeit. Abhängig von der sich ändernden Zentrifugalkraft der Beschleunigung und Verzögerung der schnellen Handschrift, zeigen die Kurven und kurvenförmigen Kompositionen dynamische Trajektorien, die wir als zusammenhängende und lesbare Figuren erkennen können, jede mit ihrer je eigenen charaktervollen Gestalt und Dynamik. Eine neue Sprache der Architektur mit einer viel größeren Vielseitigkeit bei der Problemlösung und mit einem viel reichhaltigeren, ausdrucksstärkeren und kommunikativeren Repertoire an Organisation und Artikulation wurde geboren. Der surreale Ausbruch wurde als kreativer Durchbruch eingelöst und instrumentalisiert. Die skizzierten Kurven wurden als Werkzeuge zur Lösung des Plans ernst genommen und in Ansatz gebracht. Neue, komplexe, effiziente und lesbare Kompositionen wurden so erarbeited.
Die zweite, ebenso zunächst surreale anmutende Innovation zeitigte eine ebenso überraschende, performative Fruchtbarkeit. Wir bauten Bildräume auf, in denen mehrere perspektivische Konstruktionen zu einer nahtlosen dynamischen Textur verschmolzen wurden. Ein Weg, diese Bilder zu verstehen, ist der Versuch, die Erfahrung einer Bewegung durch eine architektonische Komposition zu simulieren, die eine Abfolge ziemlich unterschiedlicher Sichtweisen offenbart. Eine andere, radikalere Art, diese Zeichnungen zu lesen, besteht darin, von den implizierten Ansichten zu abstrahieren und die Schwärme verzerrter Formen als eigenständige Architekturwelt mit ihren eigenen charakteristischen Formen, Kompositionsgesetzen und räumlichen Effekten zu lesen. Eines der auffälligen Merkmale dieser großen Zeichnungen ist das Gefühl der Kohärenz, trotz des Reichtums und der Vielfalt der darin enthaltenen Formen. Es gibt nie die Reihenfolge der monotonen Wiederholung, aber das Feld ändert sich kontinuierlich. Gradienten, also weiche übergänge vermitteln zwischen großen, ruhigen Bereichen und sehr dichten, intensiven Zonen. Gewöhnlich sind diese Zusammensetzungen polyzentral und multidirektional. Alle diese Merkmale sind das Ergebnis der Verwendung mehrerer, sich durchdringender perspektivischer Projektionen. Oft wird die dynamische Intensität des Gesamtfeldes erhöht, indem statt gerader Projektionslinien gekrümmte verwendet werden. Die projektive Geometrie erlaubte es uns, eine beliebig große und vielfältige Menge von Elementen unter das zusammenhängende Gesetz der Verkleinerung und Verzerrung zu bringen. Der resultierende Grafikraum nimmt die späteren (und immer noch sehr aktuellen) Konzepte von Feld und Schwarm vorweg. Der erzielte Effekt ähnelt sehr den Effekten, die derzeit mit kurvenlinearen Netzdeformationen und digital simulierten „Gravitationsfeldern“ erzielt werden, die eine Reihe von Elementen oder Partikeln innerhalb des digitalen Modells erfassen, direktional koordiniert ausrichten und somit zusammenhalten. Der dritte Schritt war die Einführung von Farbverläufen in das Repertoire der Architektur.
Alle drei Züge kamen in der vierten Entdeckung sich potenzierend zusammen, nämlich in der Landschaftsanalogie, die Zaha als Leitidee aufgestellt hatte. Anstatt den Raum durch Wände zu zerlegen, schlägt die Landschaftsanalogie einen kontinuierlich fließenden Raum vor, in dem Zonen ineinander übergehen, Übergänge weich sind und ein glattes topografisches Bodenrelief anstelle von harten Kanten die räumlichen Beziehungen strukturiert.
Durch diese unerwartet und in der Tat auf wundersame Weise produktiven und überzeugenden Designbewegungen und -strategien eroberte und veränderte Zaha Hadid unsere Disziplin und gab ihr eine ganz neue Magie.

 

Viele Gebäude von Zaha Hadid Architects sind mit Beton / in Sichtbeton realisiert.
Was fasziniert Sie an diesem Baustoff?
Was faszinierte Zaha Hadid an diesem Baustoff?

 

P.S.:
Beton hat für mich eine enorme Attraktivität. Zum eine liebe ich es wenn die tragenede Struktur eines Gebäudes zentral zum architektonischen Ausdruck des Gebäudes beiträgt. Die Solidität und Langlebigkeit sind auch wichtig, ähnlich wie bei massivem Holz oder Stein. Beton hat aber darüberhinaus diese fantastische Plaztiziät und Formbarkeit. Kurven und räumlich plastische Kontinuität lassen sich kaum mit einem anderen Material so elegant und nahtlos artikulieren.

 

Inwiefern unterstützt das Material Beton das erfinderische, ideenreiche, kreative Entwerfen und Bauen?

P.S.:
Beton es erlaubt Architekten mit der Konstruktion plastisch zu gestalten. Das ist entscheidend. Betonbauten wirken nie wie Attrappen oder Bühnenbilder; man kann sich auf die räumlich-architektonischen Aussagen und Versprechungen der Architektur hier verlassen.

 

Ihre Designforschungsgruppe ZHCODE – die computation and design research group for Zaha Hadid Architects – entwickelt kundenspezifische Werkzeuge, um bestimmte Fertigungsprozesse zu modellieren. Sie experimentieren in diesem Rahmen mit verschiedenen Baustoffen und unterschiedlichen Fertigungstechniken, wie z.B. 3D-Betondruck.
Welche Rolle spielt heute der 3D-Betodruck – und welche Rolle wird er in Zukunft spielen?

P.S.:
Das Drucken mit Beton ist noch in der Forschungsphase aber fantastisch vielversprechend. Fragen der statischen Performanz und Verlässlichkeit sind noch nicht durchgehend geklärt. Zertifizierungen stehen noch an. Deshalb ist diese Technologie noch in den Startlöchern. Sie wird aber kommen und sich verbreiten. Wir arbeiten inzwischen mit unserer Forschungsgruppe an den neuen architektonischen Ausdrucksmöglichkeiten, die sich hier eröffnen.

 

KnitCandela, entwickelt von ZHCODE, ist eine experimentelle Skulptur bzw. Struktur, ausgestellt im Museo Universitario Arte Contemporáneo, Mexico City. Die Skulptur ist hergestellt aus KnitCrete. Welche Ideen verfolgen Sie mit diesem Experiment, welche mit dem Material?

P.S.:
KnitCandela ist ein Architekturexperiment im Sinne des Tektonismus. Es geht hier darum neue Raumbildungsprinzipien und tektonische Artikulationsmöglichkeiten zu erschliessen, sowohl um die konstruktiven und Herstellungsmässige Effizienz zu verbessern, als auch um die kommunikative Kapazität unserer gebauten Umwelt zu erweitern. Es geht hier um eine neue, ökonomische und ausdrucksstarke Architektusprache. KnitCandela ist aber nur ein kleines Fragment des expansiven Forschumgsprogramms des Tektonismus. Hier ist Proliferation im Sinne der endlosen Formenvielfalt der Natur angestrebt, auch mit der generativen Logik und performativen Rationalität organischer Formen.

 

Bei Ihrem Forschungsprojekt „Agentenbasierte parametrische Semiologie – Lebensprozess-Simulationen“, bei dem Sie die Leitung innehaben, wird u. a. die Unity-Spielentwicklungssoftware einsetzt.
Die Spieleentwicklungsindustrie als Partner der Architekten? Was hat es damit auf sich?

P.S.:
Es geht hier um einen potenziell sehr produktiven Technologietransfer. Meine Forschungsgruppe entwickelt hier mittels Unity eine ganz neue Simulationskapazität, die sich zentral auf die Kernkompetenz unserer Disziplin bezieht, die ich mit der Formel „die räumlich-architektonische Ordnung sozialer Lebensprozesse“ bezeichne. Das Problem ist,  dass unsere Disziplin diese Kompetenz kaum noch glaubhaft aufrechterhalten kann, angesichts der kaum noch intuitiv überschaubaren Komplexität der sozialen Lebensprozesse. Im Bereich der Spielentwicklung sind Simulationsethoden entwicket worden, die auf reale Lebenssituation angepasst werden können. Darum geht es hier. Der Begriff der Semiologie kommt hier auch zum tragen, weil die sozial-strukturerenden Leistungen der Architektur immer auch semiotisch vermittelt werden. Die Agenten reagieren differenziert auf gebaute Zeichen. Im Rahmen meines Forschungsprogrammes, und durch meine mittels Simulation hochgerüsteten Entwurfsmethoden, lässt sich Architektursemiotik zum ersten mal effektiv operationalisieren. Architekturen sind Kommunikationsräume, die die sozialen Kommunkationsprozesse ermöglichen und ordnen. Daran lässt sich von nun an explizit informiert arbeiten.

 

Welche Rolle wird KI in Zukunft in der Architektur, beim Bauen einnehmen.

P.S.:
Eine Form von Künstlicher Intelligenz ist beim meinem obengenanten Forschungprojekt schon im Einsatz. KI kommt bald lawinenartig auf uns alle zu. Nicht nur im Hinblick auf den Entwurfsprozess, sondern auch in der gebauten Umwelt selber. An der AA arbeite ich mit meinen Studenten gerade an kinetischen, intelligenten architektonischen Agenten. Das sind autonome Raumteiler und autonomes Mobiliar. Der Kontext ist die Welt der kreativen, kommunikativen Arbeit, also Firmengebäude und Bürolandschaften. Wir stellen uns hier vor, dass unsere Bürolandschaft kreativ „mitdenkt“, und spontan Angebote zur Raumkonfiguration macht und dann aus den Reaktionen der Mitarbeiter lernt. Auch unsere maschinellen „Mitarbeiter“ sollten intelligent und kreative sein, anstatt auf Instruktionen zu warten.

 

Neue Ideen zu denken, zu entwickeln ist das eine, neue Ideen zu vermitteln das andere. Was kostet mehr Kraft?

P.S.:
Vermittlingsversuche lösen auch immer ein Weiterdenken aus. Das geht Hand in hand. Kritik spornt an. Wenn aber die Resonanz ganz ausbleibt, oder verebbt, dann lähmt das. Aber, es gibt immer ein Publikum für Ideen. Mitstreiter sind seltener.

 

Sie haben Architektur an der Universität Stuttgart und an der Southbank University in London studiert und Philosophie an den Universitäten Bonn und London. Inwiefern hilft es Ihnen als Architekt, auch Philosoph zu sein?

P.S.:
Die Philosophie hat mir geholfen fundamentale Fragen an die Architektur zu stellen, und die Gesellschaftstheorie hat mir dann schliesslich geholfen diese Fragen zu beantworten. Zum Beispiel: Was ist Architektur? Die Disziplin, die für die Innovation der gebauten Umwelt zuständig ist. Was ist der Beitrag der gebauten Umwelt zur Gesellschaft? Die gesellschaftliche Funktion der Architektur ist die innovative, räumlich-semiotische Ordnung sozialer Kommunikationsprozesse, mit Bezug auf die je historisch gegenwärtigen gesellschaftlichen Herausforderungen und technologischen Potenzen. Was ist hier die relevante Erneuerungsbewegung der Gegenwartsgesellschaft? Die neue Komplexität, Verdichtung und Dynamisierung aller urbanen Arbeits- und Lebensprozesse  in unserer postfordistischen Netzwerkgesellschaft. Auf der Basis einer solchen grundlegenden Orientierung kann man dann ein strategisches Architekturentwicklungsprogramm ausarbeiten, zum Beispiel: Parametrismus und Parametrismus 2.0.



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